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Von den zahlreichen jüdische Spuren im Rhein-Lahn-Kreis

„Diese schmerzliche Geschichte will geborgen sein“

B.-Chr.MaternDie Taharahalle in Bad Ems ist die einzige erhaltene jüdische Trauerhalle im Rhein-Lahn-Kreis.

Am 27. Juli wurden die rituellen jüdischen Bauwerke und Friedhöfe in Mainz, Speyer und Worms von der Unesco als Weltkulturerbe anerkannt, die „SchUM“-Stätten. Auch im Rhein-Lahn-Kreis gibt es noch zahlreiche Spuren der wechselvollen jüdischen Geschichte in der Region, z. B. mit etwa 23 jüdischen Friedhöfen. Gleichzeitig erinnern sich am kommenden Sonntag, dem sog. Israelsonntag, vielerorts Christen an die jüdischen Wurzeln ihres Glaubens. Dekanin Renate Weigel weiß: „Wir haben einander viel zu geben!“.

B.-Chr. MaternSteine auf den Grabmalen wie hier auf dem jüdischen Friedhof in Bornich sind ein Zeichen der Ehrerbietung vor den Toten.

Von Bernd-Christoph Matern

Vor kurzem hat die Unesco die rituellen jüdischen Bauwerke und Friedhöfe in Mainz, Speyer und Worms als Weltkulturerbe anerkannt, die „SchUM“-Stätten. Die Buchstaben stehen für die Anfangsbuchstaben der Städte im Hebräischen. Schon im Mittelalter bildeten sie das Zentrum des Judentums in Europa. Auch im Rhein-Lahn-Kreis gibt es zahlreiche Orte, an denen die wechselvolle jüdische Geschichte und Bedeutung erlebbar wird.

Jüdische Friedhöfe – für die Ewigkeit angelegt

Da sind etwa die 23 jüdischen Friedhöfe in den Ortschaften des Kreises. Nach jüdischem Verständnis sind sie für die Ewigkeit angelegt, eine neue Belegung also undenkbar. „Haus der Ewigkeit“ oder „Haus des Lebens“ werden sie im Hebräischen genannt. Letzteres kommt auf Friedhöfen in den größeren Städten mit jüdischen Gemeinden durch die vielen Steine zum Ausdruck, die sich auf den teils uralten Grabsteinen finden. Sie zeugen von vielen Besuchen auf jüdischen Friedhöfen und werden nicht nur von Verwandten dort abgelegt, um den dort Begrabenen Ehre zu bezeugen. Ein Brauch, ähnlich niedergelegter Blumen, der mittlerweile neben jüdischen Gräbern auch an anderen Grabstätten gepflegt wird.

Mehr als 900 Grabsteine sind im Kreis noch erhalten

Zwischen Diez und den Rheinhöhen gibt es das selten, denn die Friedhöfe im Rhein-Lahn-Kreis befinden sich überwiegend außerhalb der bebauten Ortslagen und teilweise versteckt in Wäldern. Fast alle stehen als Kulturdenkmal unter Denkmalschutz. Und das aus gutem Grund, denn dort befinden sich Zeugnisse einer mancherorts bis zu fast 350 Jahre alten Friedhofskultur in Deutschland, wie etwa dem 1674 angelegten Friedhof in Nastätten oder der ebenfalls im 17. Jahrhundert geschaffenen Ruhestätte in Cramberg. Mehr als 900 Grabsteine sind nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden (Alemannia Judaica) im Kreis noch erhalten. Mit gut 3100 Quadratmetern Fläche ist der jüdische Friedhof in Bornich einer der größten in der Region; dort wurden auch jüdische Bürger aus Bogel, Ruppertshofen, St. Goarshausen, St. Goar, Welterod und Werlau begraben; einer der Grabsteine trägt als Inschrift das Jahr 1724. Wie der ehemalige Bornicher Gemeindepfarrer Christian Becker in einer Broschüre von 1988 über die jüdische Geschichte im Amt Rheinfels schreibt, dürfte der Friedhof sogar schon kurz nach 1681 angelegt worden sein; einen „Judenkirchhof“ gab es damals zumindest schon in Nochern.

Etwas ganz Besonderes: der jüdische Friedhof in Bad Ems

Eine Ausnahme bildet der jüdische Friedhof in Bad Ems. Der befindet sich nämlich mitten im christlichen und hat kreisweit die meisten Gräber. Stadt, Bürgerstiftung und das Dekanat Nassauer Land engagieren sich unter anderen für die Sanierung der dortigen Trauerhalle der „Tahara“, ein Bauwerk, das es sonst nicht noch einmal im Rhein-Lahn-Kreis gibt. 1960 gab es dort letztmals eine jüdische Beisetzung; auch Kurgäste jüdischen Glaubens sind dort begraben. Auf dem Friedhof in Balduinstein finden heute noch Menschen jüdischen Glaubens ihre letzte Ruhestätte, zuletzt 2017. Vor allem mit viel ehrenamtlicher Unterstützung werden die jüdischen Friedhöfe im Rhein-Lahn-Kreis von den Kommunen instandgehalten.

Tausende von Stolpersteinen als Erinnerung und Mahnung

Ansonsten hat der Holocaust im Kreisgebiet die wichtigsten Stätten deutscher Mitbürger jüdischen Glaubens vernichtet. Um an diese und deren zumeist grauenvolles Schicksal zu erinnern, sind gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten allerorten viele Gedenkstätten entstanden, die meisten davon mitten in den Gemeinden zwischen Rhein, Lahn und Aar. Neben Gedenktafeln mit Namen der Holocaust-Opfer erinnern tausende Stolpersteine in den Straßen der Ortschaften an die ehemaligen Einwohner. Stelen, Kunstwerke und Gedenkplatten zeigen, wo sich einst Synagogen (27 gab es im Kreis), Krankenhäuser, Schulen, Altenheime, Waisenhäuser und andere jüdische Einrichtungen befanden. Eines der auffälligsten Kunstwerke steht in Nassau. „Uns war und ist wichtig, mitten in der Stadt einen Erinnerungsort zu haben und sich auch öffentlich dazu zu bekennen“, sagt Stadtbürgermeister Manuel Liguori.

Video-Spaziergang auf den Spuren jüdischen Lebens

Doch es bleibt nicht nur bei Objekten und steinernen Zeugnissen. Schülerinnen und Schüler des Bad Emser Goethe-Gymnasiums erinnern etwa an die Geschichte, drehten einen Video-Spaziergang durch die Stadt zu jüdischem Leben, der mit dem Rolf-Joseph-Preis ausgezeichnet wurde. In der Kreisstadt gründet sich auch gerade eine neue liberale jüdische Glaubensgemeinschaft zum Beten, für Gottesdienste, Feiertage, Tradition und Austausch, die über den Rhein-Lahn-Kreis hinaus Menschen jüdischen Glaubens eine neue Gemeinde geben will.

Das Schweigen über die Verfolgung immer wieder brechen

Noch in den 1980-er Jahren war es um die Erinnerungskultur wesentlich schlechter bestellt, nicht zuletzt aus Angst, Vorfahren, die während der NS-Diktatur aktiv an der Verfolgung und Vernichtung von Juden beteiligt waren, könnte deren Nachfahren in ein schlechtes Licht stellen. Die Dekanin des evangelischen Dekanats Nassauer Land Renate Weigel erinnert sich noch gut daran, als sie 1985 als frischgebackene Vikarin zum so genannten Israel-Sonntag über das christlich-jüdische Verhältnis predigen wollte und ihre Eltern erstmals zuhörten. „Ich wünschte mir die Anerkennung meiner Eltern; aber ich wusste, ich würde über ein Thema sprechen, über das bei uns zuhause lieber geschwiegen wurde“, erzählt sie. „Bis heute gefällt der Israelsonntag nicht allen.“ Bis heute wollten Menschen in den Gemeinden, dass die Kirchen es endlich einmal „gut sein lassen“. „Aber können wir  gut sein lassen, womit wir jahrhundertelang Schaden angerichtet haben?“, fragt die Theologin.

„Diese schmerzliche Geschichte will geborgen sein“

„Ich freue mich über die Kultur der Stolpersteine, über jedes Zeichen, mit dem wir heute daran erinnern, dass jüdische Familien unter uns lebten und ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Leben leisteten“, hofft sie, dass nicht nur an den Schum-Stätten als Welterbe die Bedeutung des Judentums gepflegt wird, sondern auch in den Orten des Rhein-Lahn-Kreises. „Gut, wenn wir noch wissen, wo die Synagogen und Wohnhäuser standen und wenn wir die jüdischen Friedhöfe pflegen und achten“, so die Dekanin. „Die schmerzliche Geschichte will nicht verschwiegen, sondern geborgen sein.“ Der Israel-Sonntag leiste dazu einen Beitrag. Weigel: „Und es darf weiter gehen: Wir können einander als die, die wir heute sind, begegnen und verstehen lernen“.

Vom Sieges-Stolz zum spannenden Dialog

Der kommende Sonntag wird in der evangelischen Kirche „Israel-Sonntag“ genannt. Wurde dabei einst an die Zerstörung Jerusalems gedacht, nutzen die Christen den Tag seit Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem, um sich der jüdischen Wurzeln ihres Glaubens zu erinnern.  In der Reformationszeit habe die christliche Kirche das Thema „Zerstörung Jerusalems und des Tempels“ für sich entdeckt und dazu den 10. Sonntag nach Trinitatis ausgewählt, um über entsprechende Bibeltexte zu predigen, erklärt Dekanin Renate Weigel. „Ist das Gedenken der Juden von Trauer und Buße geprägt, so war es das der Christen von Stolz und Überlegenheit“, so die Theologin. „Israel wurde als blind und gescheitert dargestellt. Es hatte Christus nicht erkannt, ja, ihn getötet. Deshalb wurde es, so predigte man, mit der Zerstörung des Tempels und der Zerstreuung in alle Welt bestraft“. Die Christen hätten sich als das neue Volk Gottes angesehen, während das alte Volk Israel ein für allemal abgewirtschaftet hatte. Weigel: „Jahrhundertelang wurde so das Feuer der Judenfeindlichkeit mit geschürt“.

Nicht die Juden tragen die Verantwortung für Jesu Tod

Dass es gar nicht die Juden waren, die die Verantwortung für Jesu Tod tragen, hat schon der verstorbene Pfarrer und ehemalige Dekan Franz Gölzenleuchter aus Limburg 1998 betont. In seinem Buch über die jüdischen Spuren im Rhein-Lahn-Kreis „Sie verbrennen alle Gotteshäuser im Lande“ schreibt er über das christliche Vorurteil: „Das war verhängnisvoll und falsch. Das letztgültige Todesurteil wurde gegen besseres Wissen definitiv von dem Römer Pontius Pilatus gesprochen.“ Aber noch zum Reformationsjubiläum im Jahr 2017 manifestierte diesen Schlussstrich unter das Volk Israels ganz unbewusst eine Playmobil-Figur von Martin Luther. In der Bibel, die sie in Händen hält, stand unter dem Alten Testament ein dickes „Ende“. Es war Friedlands Gemeindepfarrerin Yvonne Fischer, die den Zusammenhang vor der Kirchensynode kritisch hinterfragte und dafür sorgte, dass auf dieses „Ende“ in den später produzierten Spielfiguren verzichtet wurde. „Tatsächlich wurde Christinnen und Christen nach Öffnung der Konzentrationslager 1945 langsam zwar und schmerzlich bewusst, dass sie sich in gewisser Weise an einem Massenmord beteiligt hatten“, erklärt Dekanin Weigel.

Nachdenken über ein neues Verhältnis zwischen Christen und Juden

Die evangelische Kirche entschied, den Israelsonntag beizubehalten, um über ein neues Verhältnis zwischen Christen und Juden nachzudenken. Der christlich-jüdische Dialog wurde eröffnet. 1991 hat die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) ihre entschiedene Abkehr von der Judenfeindlichkeit in einer Erweiterung des Grundartikels festgeschrieben: „Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen bezeugt sie (die EKHN) neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.“ Es sei für sie hochspannend, wenn auf dem Kirchentag christliche und jüdische Theologinnen und Theologen gemeinsam Bibeltexte auslegen, so Weigel. „Wir haben einander viel zu geben!“.

„Juden und Christen können einander auf Augenhöhe begegnen“

Und weiter sagt die Theologin: „Was uns verbindet, ist stark. Jesus von Nazareth war Jude. Die Gnade Gottes gilt Juden und Christen. Das höchste Gebot von der Gottes- und Nächstenliebe steht im Alten (besser Ersten) Testament“. Ganz davon zu schweigen, wie sehr die Geschichten von Schöpfung, Befreiung und sozialer Gerechtigkeit bis heute Orientierung gäben. Juden und Christen könnten einander auf Augenhöhe begegnen. Weigel: „Wir müssen Juden nicht missionieren“. Erst wenn sich Menschen füreinander interessieren, sei Beziehung möglich. „In Beziehung sein hilft uns, menschlich zu bleiben.“

 

 

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